
Hey, wie cool, dass du hier gelandet bist!
Meine Autorin war sich anfangs nicht sicher, ob ich überhaupt eine eigene Seite bekommen sollte. Aber wenn ich eines kann, dann ist es nicht locker lassen. Manche nennen es Hartnäckigkeit, andere würden wohl eher Sturheit sagen. Tja, was soll ich sagen … beides stimmt.
Ach so, ich bin übrigens Melvin. Der Typ, um den sich alles dreht in „Sehnsucht nach Ruhm“. Ohne mich gäbe es die ganze Reihe „Sehnsucht nach …“ gar nicht. Ich bin sozusagen der Ursprung des Chaos, äh, der Geschichte.
Du hast das Buch schon gelesen? Großartig!
Du nicht? Wirklich jetzt?
Na gut, dann erzähl ich dir ein bisschen was über mich, vielleicht mach ich dich ja neugierig:
Schon als kleiner Knirps war Musik mein Lebenselixier. Und Bühne? Mein natürlicher Lebensraum. Angefangen hat alles im Wohnzimmer meiner Eltern. Die saßen regelmäßig auf der Couch, während ich meine ganz persönliche Show ablieferte.
Später, als Teenager, gründete ich eine Garagenband. Ja, wir haben tatsächlich in der Garage gespielt. Aber mir war schnell klar: Das reicht mir nicht. Ich wollte mehr. Größer. Lauter. Also bin ich mit 18 nach New York gezogen, mit nichts außer der Gitarre und meinem Traum im Gepäck.
Damals dachte ich noch, Talent und Leidenschaft reichen aus. Die Stadt hat mir ziemlich schnell gezeigt, wie naiv das war.
Aber keine Sorge, ich verrate nicht zu viel. Wenn du wissen willst, wie’s weitergeht, lies mein Buch. Ich verspreche dir: Es wird alles andere als langweilig.

Schipselzeit!

Es folgen ein paar Abschnitte, die von der Anfangzeit in New York handeln. Zu einer Zeit, in der ich mich als Kneipenmusiker durchschlug und die Idee von einer eigenen Music Hall aufkam:
Am 15. Oktober 1977 erreichte Debby Boone mit ›You light up my life‹ Platz 1 der Charts. Sie blieb dort für zehn aufeinander folgende Wochen, bis die Bee Gees sie ablösten.
Melvin spielte seine Musik auch da noch in Barry’s Midnight-Bar. Obwohl er wie besessen sparte, würde er aus eigener Kraft niemals genug für eine Konzerthalle zusammenbekommen. Mit einem Kredit glaubte er, es zu schaffen.
…
In den darauffolgenden Wochen und Monaten klapperte Melvin systematisch die verschiedensten Geldinstitute New Yorks ab. Besonders geringschätzig behandelten ihn große Bankhäuser. Die kleineren verpackten ihre Abfuhr immerhin nett. Am Ende seiner Bemühungen stand stets dasselbe Ergebnis: »Ohne Sicherheiten wird das nichts, Mr. Caine.«
Melvins Leben glich einem Hamsterrad. Nachts trat er in Barry’s Midnight-Bar auf und die Tage verschlief er. Anfängliche Zuversicht löste Hoffnungslosigkeit ab. Es kostete ihn immer größere Mühe, sich aufzuraffen, um sein Konzept einer Bank vorzustellen. Keine weiteren Enttäuschungen! Um nicht zu verzweifeln, schrieb er Songs, bis der Abend nahte und sein tristes Dasein in eine neue Runde ging.
…
Eine schlaflose Nacht lag hinter Melvin. Bei grauem, regnerischem Wetter erschien sein Zimmer noch ärmlicher. Er war traurig und litt unter Einsamkeit, bedurfte dringend aufmunternder Worte. Also zog er sich an und stieg die Treppen hinab zum Hauswart, wo ein Telefon stand. Melvin gab ihm einen Quarter und der Hauswart ließ ihn telefonieren. Im Klaren, dass seine Mutter nicht helfen konnte, erhoffte er sich ein wenig Zuspruch.
»Melvin, endlich meldest du dich.«
»Mom, mir geht …«
»Besucht hast du mich ewig nicht.«
»Mom, ich versuche …«
»Ich vermisse dich. Dein Vater …«
»Bitte, Mom …«
»Ich kann nicht mehr richtig schlafen, seit du weg bist.«
»Es geht mir nicht gut.«
»Hier hast du alles.«
»Du weißt …«
»Melvin, es wird Zeit, dass du nach Hause kommst. Ich könnte endlich wieder Ruhe finden. Und du würdest in geregelten Verhältnissen leben. Was hast du in New York verloren? Berühmt werden? Was für ein Blödsinn. Such dir einen vernünftigen Job. Ich brauche dich hier. Hörst du mich?«
»Mom, kann ich mit Jackie sprechen?«
»Warum kommst du nicht zurück? Ich …«
Melvin legte auf und stand für einen Moment wie erstarrt vor dem Counter des Hauswarts. Dann hastete er hinaus auf die Straße. Er hielt erst inne, als er zu einer Kneipe kam. Ging hinein, setzte sich an den Tresen und ließ sich volllaufen, bis er alles vergaß.

Da mir durchaus bewusst ist, dass zu meiner Geschichte auch all die anderen Protas gehören, sollen sie hier auch zu Wort kommen:
Alan
Alan schob den Vorhang etwas zur Seite und beobachtete Melvin auf der Bühne. Er erlebte mit, wie der Charme des Musikers das Publikum buchstäblich um den kleinen Finger wickelte. In diesem Augenblick wurde ihm endgültig klar, dass er auf das richtige Pferd gesetzt hatte. Überzeugt, dass Melvin de Flame eines Tages große Hallen füllen und ihn sanieren würde, fand er, wonach er sich lange gesehnt hatte: Etwas, wofür er brennen konnte.
…
»Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Lǎoyé Alan.« Ihre zarte Stimme war kaum mehr als ein Wispern.
»Mir ist es eine Ehre, Ms. Yen.«
Ms. Yen führte sie zu zwei Diwanen, die sich einen Beistelltisch teilten, und überließ sie sich selbst. Alan grinste amüsiert zu Melvin hinüber und machte es sich auf seinem Liegesofa behaglich.
»Wo sind wir hier?«
»Mel, wir haben so hart gearbeitet. Ich dachte, da kann etwas Entspannung nicht schaden«, flüsterte Alan und reichte ihm die Speisekarte. »Was du heute auf der Bühne abgeliefert hast, war der Hammer! Einfach superb!«


Jessica
Sie hatte manchen Abend in dieser Kneipe verbracht, seit sie vor vier Monaten nach Brooklyn kam. Die Tage waren aufgrund ihres Jobs okay. Sobald die Dunkelheit hereinbrach, wurde es schlimmer. Als unerträglich empfand sie die Nächte.
Für sich in ihrer winzigen Wohnung schienen die Wände näherzukommen. Hielt sie es nicht länger aus, lief sie hinaus auf die Straße und endete meistens in derselben Kneipe.
Sie redete sich ein, dass es ihr auffallen würde, wenn dort etwas anders wäre als sonst. Die Gäste vermittelten ihr ein Gefühl von Normalität und sie hoffte, dass sie sich nicht in trügerischer Sicherheit wähnte.
Auch an diesem Abend stand sie am Spielautomaten. Nicht um zu zocken, sondern um unauffällig die anderen Kneipenbesucher zu beobachten, die sich im Glas des Automaten spiegelten.
Jackie
Mutter starb im August 1986. Am Nachmittag tönte noch ihr Gezeter durch das Haus, am Abend legte sie sich schlafen und am Morgen danach wachte sie einfach nicht wieder auf.
Ich fand sie, als ich nach ihr schaute, verwundert, dass sie nicht wie sonst zur Frühstückszeit hinunterkam. Obwohl ich erkannte, dass er nichts mehr für sie tun konnte, alarmierte ich sofort unseren Arzt.
Dann wählte ich Vins Nummer. Er musste es als Erster erfahren, vor allem brauchte ich ihn an meiner Seite.
Von seiner Haushälterin erfuhr ich, dass er in der Music Hall erreichbar sei. Also rief ich im Büro an. Seine Vorzimmerdame sagte, sie wisse nicht, wo er sich aufhielt. Wahrscheinlich im Studio. Dort gab es kein Telefon.
In der Zwischenzeit erschien der Arzt und stellte den Totenschein aus.
Zwei Stunden wartete ich auf Vins Rückruf, bevor ich abermals in seinem Büro anrief.
»Es tut mir leid, Ms. Caine. Er ist noch nicht wieder aufgetaucht«, sagte seine Sekretärin.
»Unsere Mutter ist gestorben.«
»Oh, Ms. Caine. Mein Beileid. Ich kümmere mich darum, dass Mr. de Flame die Nachricht erhält.«
Ich dankte ihr und legte den Hörer zurück in die Gabel. Dann holte ich einen Stuhl und bezog Lager neben dem Apparat, um Vin nicht zu verpassen.
Am späten Nachmittag saß ich noch immer beim Telefon. Vielleicht hat er sich sofort auf den Weg gemacht. Jedes Mal, wenn ich Motorengeräusche hörte, rannte ich zum Fenster und hoffte, es wäre Vin.
Er rief nicht zurück. Er kam auch nicht nach Hause. Nicht an Mutters Todestag und nicht am darauffolgenden.


T. J.
Melvin blieb stehen. »Sie könnte deine Tochter sein, wenn’s beim ersten Mal geklappt hätte.« Sein Verständnis für das, was zwischen den beiden war, schwand.
»Als ich Jackie zum Mittagessen abgeholt habe, fiel es mir schwer, zu glauben, dass sie deine Schwester ist. Sie war so schüchtern. Im Stillen habe ich dich verflucht, weil du mich überredet hast, das Kindermädchen zu geben.«
»Aber wieso …«
T. J. ließ Melvin nicht weiterreden. »Beim Essen fing sie an zu erzählen. Und da habe ich bemerkt, dass sie gar nicht so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Ihre Schüchternheit hat sie schnell abgelegt. Sie hat viel von sich erzählt. Ich glaube, dass sie sonst niemanden hat, der ihr zuhört.«
»Ich weiß, dass bei uns nicht alles perfekt ist. Aber sie ist doch erst siebzehn.«
»Jetzt lass uns endlich hinsetzen.« T. J. ging zum Tisch mit den Sesseln. »Soll ich uns Frühstück bestellen?«
»Was willst du von ihr?«
»Ich habe gemerkt, wie dringend sie jemanden braucht, der ihr zuhört. Dann habe ich sie in diesem Kleid gesehen. Sie ist schön. Gibt man ihr nur ein wenig Aufmerksamkeit, erkennt man, dass sie eine reizende, intelligente, junge Frau ist und kein Kind mehr. Sie ist doch schon siebzehn!«
Melvin ließ sich in einen Sessel fallen. »Frühstück ist okay.« Die Zeit, die T. J. für die telefonische Bestellung benötigte, nutzte er zum Nachdenken. »Ich war nah dran, sie zurück nach Venice zu schicken.«
T. J. setzte sich zu ihm. »Nah dran?«